Körperarbeit  - Deane Juhan -  Die Soma-Psyche-Verbindung , „Alternativ Heilen“

Der Leistungssinn – Die Ästhetik der Leistung

Das ästhetische Objekt im Tanz sind die Gestalt und die Bewegungen der Muskulatur selbst. In der Musik bewegen wir uns scheinbar in einem ganz addieren ästhetischen Raum; hier lösen die Eigenschaften on Tonhöhe, Klang, Harmonie und Disharmonie die Wertschätzung aus - durch unsichtbare und ungreifbare Schallphänomene.

Musik gilt oftmals als die am meisten vergeistigte, als die körperlichste Kunstform. Doch die Schönheit der Musik wohnt nicht nur in Tonhöhe, Tonalität und Harmonie; Musik ist der Umgang mit diesen Elementen. Es gibt keine Note und keinen Akkord, dessen Zauber nicht rasch vergehen würde, wäre er nicht umgehen von anderen, die einen sinnreichen Zusammenhang herstellen. Die Punktierung des Klangs in unterschiedliche Taktwerte, die Hebungen und Senkungen, die eine Melodie entstehen lassen, das Kombinieren mit anderen Klangfarben, um harmonische Modulationen zu schaffen, das Hinzufügen von Variation, Koloratur, Pianissimo und Betonung - das  sind Effekte, ohne die das Erzeugen von Tönen eigentlich keine Musik ist. Alle diese praktischen Aspekte der Musik sind Resultat einer äusserst feinen muskulären Kontrolle.

Am deutlichsten wird das beim Sänger, dessen Atemtrakt das Instrument bildet, doch es gilt auch für Geiger, Pianisten und Trompeter. Man bewundert hier nicht die Aktivität des ganzen Körpers, sondern die kleinen, subtilen Bewegungen von Fingern, Armen, Zwerchfell, Kehlkopf, Mundstück. Das Wesen des Kunstwerks hat sich verändert, der Schwierigkeitsgrad der erforderlichen muskulären Leistungen jedoch nicht im geringsten. Die Zahl und der Bewegungsspiel­raum der Muskeln hat sich zwar verringert, doch die Notwendigkeit der Präzision von Platzierung, Druck mal Timing ist proportional gestiegen. Unsere Einsicht in diese Verfeinerung – besonders wenn wir uns selbst einmal an einem Musikinstrument versucht haben – erhöht noch unsere Wertschätzung der Darbietung eines Musikstücks.

Wie der Tanz ist Musik nichts, wenn sie nicht Darbietung ist, und Darbietung ist nichts, wenn sie nicht muskulär ist. Die Muskeln sind die Musen.

Unser Gefühl für die muskuläre Komponente der Musik hat ebenso mit unserer ästhetischen Reaktion zu tun wie die rein sensorischen Eigenschaften, die unser Ohr aufnimmt.

Warum gilt beispielsweise der Organist nicht als etwas „Besseres“ denn der Gitarrist, tun der Gitarrist, obwohl er ein viel größeres Klangvolumen, viel mehr Noten und  Klangvariationen erzeugen kann? Weil der Gitarrist eine ebenso grosse Meisterschaft  über sechs Saiten entwickeln kann wie der Organist über Hunderte von Tasten Pedalen und Registern. 

Diese Meisterschaft rührt uns, unabhängig von formalen oder mechanischen Beschränkungen, in deren Grenzen sie operiert. Und diese Meisterschaft ist eine Frage  der muskulären Beziehung zum Instrument.
Schließlich macht es mehr Freunde, einer mit exquisiter Beherrschung gespielten Melodie auf einer Soloflöte zu lauschen, als dem unbeholfenen Verpfuschen eines viel komplizierten Concertos mit vollem Orchester.

Oder warum  ist eine Live-Darbietung stets fesselnder als die Schallplattenaufnahme desselben Künstlers?
Weil uns die physikalischen Fakten der Klangerzeugung greifbar vor Augen stehen, weil wir mit eigenen Augen die Anstrengungen und feinen Unterschiede bestätigen können, die unser Ohr ansonsten nur ahnt. Und um die Abstraktion, die uns eine Aufnahme aufzwingt, einen Schritt weiter zu treiben: Warum ist die computerisierte Version einer Bach-Fuge dazu verurteilt, selbst hinter der Schallplattenaufnahme eines lebendigen Künstlers weit zurückzustehen? Der Computer ist schlicht unfähig, die winzigen Klangschwankungen, die fast unmerkliche Willkür im Tempo, die subtilen Abwandlungen der Phrasierung einzubauen, die uns von der muskulären Lebendigkeit der Klangquelle künden.

Es gereicht dem Computer sogar zum Nachteil, dass seine Version völlig  „makellos“ sein kann – das heisst ohne jene kaum merklichen Zeichen von Anstrengungen und Fehlern, die zu klein sind, um unseren Genuss zu trüben, die im Gegenteil beredt Zeugnis von der Schwierigkeit des Stücks ablegen, die uns ein köstliches Gefühl für das Geschick vermitteln mit dem die Krisen und Auflösung der heikelsten Passagen bewältigt werden.

 

Aus ähnlichem Grund äußern sich mancher Musiker unzufrieden mit elektronischen Instrumenten ganz generell, zum Beispiel George Shearing:

Das Problem mit elektronischen Keyboards - und ich habe e
in paar Noten hier und da gespielt – liegt darin, dass für die zärtliche, liebevolle Sorgfalt, die durch manche liebevolle Pianistenhände fliesst, nicht viel Raum ist, für das Gefühl, das man die Taste die Taste dieser Note so sehr gestreichelt hat, dass sie zu dir singt und nicht brüllt. Bei computerisierten Instrumenten fehlt die Individualität der Berührung fast gänzlich, fehlt die Möglichkeit, einen Pianisten vom anderen zu unterscheiden… Natürlich lässt sich die erstaunliche Vielfalt der Klangfarben elektronischer Instrumente nicht übersehen. Klangfarben allerdings sind eine Sache, eine andere die Abstufungen von Klang und Berührung und das Unstete und somit die Unberechenbarkeit, die in einem Menschen wohnen, der sich mit etwas so Sensiblem wie ein Klavier beschäftigt.

Viele Musikpassagen - und manche Musikgenres – wecken unsere Faszination an der Schwierigkeit ebenso sehr wie an den speziellen Merkmalen ihrer Melodien, Harmonien und Rhythmen. Die Etüde ist so der Fall.


Es ist ein kurzes Stück, bei dem das musikalische Interesse fast ausschliesslich auf  einem einzigen technischen Problem beruht. Eine mechanische Schwierigkeit erzeugt direkt die Musik, ihren Zauber und ihr Pathos. Schönheit und Technik sind vereint, doch der schöpferische Impuls in der Hand des Ausführenden mit ihrer Muskel und Sehnenanordnung, ihrer ganz eigenen Gestalt. Bei den Etüden von Chopin ist der Augenblick der grössten emotionalen Spannung zumeist auch die Sekunde, in der die Hand des Pianisten die schmerzhafteste Dehnung erfährt, so dass die muskuläre Empfindung – auch ohne den Klang  - zu einem Spiegelbild der Leidenschaft wird.

 

Kurz, das Wissen um die Begrenztheit des Instruments und der Schwierigkeitsgrad  des Stücks, gemeinsam mit der Wahrnehmung, wie gut der Künstler mit diesen Bedingungen fertig wird, vermitteln uns das ästhetische Vergnügen zumindest ebenso sehr wie irgendwelche Werte und Assoziationen, die bestimmten melodischen und harmonischen Genres innewohnen. Die Beliebtheit der vielfältigen Musikgenres ist natürlich auch eine Sache des Geschmacks, doch das muskuläre Geschickt des Musikers bleibt das Medium, in dem sie sich alle treffen. Gleichgültig, wie ätherisch , wie entkörpert Musik zu sein scheint, ihre eigentliches Fundament könnte nicht körperlicher sein. Rhythmus, Phrasierung, Klang und Tonalität sind allesamt unmittelbarer Ausdruck muskulärer Kontrolle, und unserer ästhetischen Reaktion ist fest verbunden mit unserer Wahrnehmung der Verfeinerung solcher Leistungen.